Donnerstag, 24. März 2016

Als Dorfkind in der Großstadt

Wenn man als Dorfkind flügge wird, das Nest der trauten Heimat verlässt und plötzlich in einer Großstadt landet, dann verändert sich alles. Die Umgebung, der Blick auf die Welt und man selbst. Auch ich sprang vor einigen Jahren ins kalte Wasser und tauchte ein in ein Meer von Möglichkeiten. Gewöhnt an lange Fußmärsche oder Fahrradtouren, weil der Bus höchstens einmal in der Stunde und nicht später als 19:27 Uhr das Dorf verlässt, findet man sich plötzlich in der wunderbaren Situation wieder, nicht mehr als 10 Minuten auf ein öffentliches Verkehrsmittel zu warten. Muss man sich doch einmal länger gedulden, so kann man um sich herum, gleich einem Wimmelbild, allerhand entdecken und beobachten:
Stadtmenschen sind eine Klasse für sich. Sie tragen stets einen Coffee-to-Becher in der einen, ihr Smartphone in der anderen Hand. Sie wickeln sich in deckengroße Schals und tragen hippe Hüte auf ihren Köpfen. Die Haare bunt gefärbt, rasiert oder kunstvoll zu einer gerade-aufgestanden-Frisur verstrubbelt. Ihr Blick ist cool, so als merkten sie nicht, dass ich sie anstarre wie ein Kunstobjekt. Mit dicken Kopfhörern auf den Ohren und mit überdimensionalen Mänteln bekleidet rauschen sie an mir vorbei, während ich alle paar Meter stehen bleibe, um die Faszination Stadt für mich zu begreifen.

 Häuser ragen weit in den Himmel hinein. An ihren Fassaden prangen bunte Graffitis, tragen einen Teil zum Stadtdiskurs bei. Botschaft an die Gesellschaft, politische Rebellion oder einfach nur der Wunsch, etwas Verbotenes zu tun? Ich frage mich, was die Intention des Sprayers war, der einen Kackhaufen, aus dem eine rote Blume zu wachsen scheint, an die Seitenmauer eines gelb gestrichenen Gebäudes gesprüht hat.
An jeder Ecke gibt es kleine Kneipen oder Cafés und am Abend habe ich die Wahl zwischen Irish Folk, elektronischer Tanzmusik, einer Aufführung von Goethes Faust und einem französischen Kunstfilm aus den 1960er Jahren. Ich entscheide mich schließlich für einen Cocktailabend mit Freunden in einer spanischen Bar, die bereits zahlreiche Preise für ihre außergwöhnlichen Getränkemischungen gewonnen hat. Während ich mich auf dem Rückweg frage, ob es für das Wort „Cocktail“ eigentlich ein deutsches Wort á la „Getränkemischung“ gibt, fällt mir auf, wie viele Menschen nachts unterwegs sind und freue mich über die Lebendigkeit des Stadtlebens. Selten sitze ich allein im Bus, selbst nachts um drei Uhr nicht. Mit einer Mischung aus Ängstlichkeit und Neugier werfe ich den Mitfahrenden Blicke zu, überlege im Geiste, welche Lebensgeschichten diese Personen in sich tragen. Einige wirken, als würde sie nur noch die Chemie der Drogen am Leben halten, die sie zuvor zerstört hat.

 Doch der Zauber der Großstadt verblasst mit der Zeit. Der Reiz der unendlichen Möglichkeiten ist verloren, ich bleibe zuhause und fühle mich nicht nur in meiner kleinen Wohnung wie in einem Meerschweinchenkäfig. Die Stadt ist eng und anonym. Selbst nach Jahren der Nachbarschaft, kenne ich die Namen der anderen Mieter in meinem Haus nur von den Briefkastenschildern und würde die dazugehörigen Personen nicht einmal erkennen, wenn ich ihnen unterwegs begegnete. Die Stadt quillt über vor Menschen und doch fühle ich mich wie ihr einziger Bewohner. Vorbei ist die  Zeit, in der mich die Leute durch ihre Extravaganz beeindruckt haben. In ihrem zwanghaften Streben nach Individualität laufen sie uniformiert durch ihr Viertel. Ihr Anblick langweilt mich. Lediglich die knalligen Farben ihrer Turnschuhe, die sie zu viel zu kurzen und engen High-Waist-Bluejeans tragen, unterscheiden sich. Turnbeutel, dicke Fensterglasbrillen und Loophaargummis, bei denen ich immer an die Telefonkabel früher Festnetztelefone denken muss -  überall sehe ich die gleichen, angepassten Menschen. Sie gucken nicht cool, sondern genervt, wenn der Bus mit dem sie ins Fitnessstudio fahren, fünf Minuten zu spät kommt. Nebeneinander stehen sie da, starren auf ihre Handys und haben verlernt, ihre Umgebung wahrzunehmen. Ich vermisse die Zeit, wo ich beim Warten auf den Bus in meinem Heimatort meinem Schwarm heimliche Blicke zuwarf, scheu lächelte und schnell zur anderen Seite schaute, sobald er es bemerkte. Hier in der Stadt werden keine Blicke ausgetauscht und gelächelt wird nur noch für die Handykamera und das neue Selfie für Instagram. Mir fehlen die Menschen mit ihren dicken Gummistiefeln und grünen Allwetterjacken, die einem zunicken, wenn man sich zu ihnen in das Buswartehäuschen stellt. Meine Dorfbewohner mit ihrer liebenswerten mürrischen Art lächeln zwar ebenso selten, aber wenn, dann kommt es von Herzen.

 Nachts laufe ich durch die Straßen und blicke in den hellschwarzen Himmel. Mir fehlen die vielen Sterne und der verlorene Blick in die Unendlichkeit des Universums. Die Stadt pulsiert wie unter einer Glocke. Nicht weiter als bis zum nächsten Häuserblock reicht der Blick. Ich vermisse es, über die Wiesen und Felder zu schauen, vermisse den Geruch nach frischem Heu und geschnittenem Rasen. Auch die steife Briese fehlt mir hier, die mir im Garten um die Nase wehte und meine Haare durcheinanderwirbelte.
Stadtleben, du hast mich aufgefangen, als ich aus dem Nest gefallen bin, aber ich weiß schon jetzt, dass wir unsere Beziehung nicht ewig werden fortführen können. Noch kommen wir miteinander klar, trotzdem werde ich dich irgendwann verlassen. Ich weiß, es ist eine der meistgehassten Phrasen, aber ich meine sie ernst: Lass' uns danach doch einfach Freunde bleiben.

2 Kommentare:

  1. Hallo Sarah, ich habe gerade einfach mal "als Landei in der Großstadt" gegoogelt und bin auf deinen Blogg gestoßen. Es tut sehr gut, diesen Artikel zu lesen! Er ist Balsam für meine Seele, denn ich habe bisher kein Landei getroffen, das auch so empfindet. Ich nehme an, du bist nach wie vor in der Großstadt? Vorhin habe ich gerade eine Spontacts-Aktivität abgesagt, als ich feststellte, ich würde insges. 2 Stunden mit ÖVis unterwegs sein, um 2 Stunden bei einer Party zu sein. Es gibt wohl Dinge, an die ich mich auch nach 2 Jahren nicht gewöhne ;). Alles liebe und viele Grüße von der Thüringerin in Frankfurt a. M.!

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  2. Hallo Sarah, ich habe gerade einfach mal "als Landei in der Großstadt" gegoogelt und bin auf deinen Blogg gestoßen. Es tut sehr gut, diesen Artikel zu lesen! Er ist Balsam für meine Seele, denn ich habe bisher kein Landei getroffen, das auch so empfindet. Ich nehme an, du bist nach wie vor in der Großstadt? Vorhin habe ich gerade eine Spontacts-Aktivität abgesagt, als ich feststellte, ich würde insges. 2 Stunden mit ÖVis unterwegs sein, um 2 Stunden bei einer Party zu sein. Es gibt wohl Dinge, an die ich mich auch nach 2 Jahren nicht gewöhne ;). Alles liebe und viele Grüße von der Thüringerin in Frankfurt a. M.!

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