Sonntag, 29. Mai 2016

Warten auf Irgendwann


Wann ist eigentlich irgendwann? Dieses Irgendwann, wohin all die schönen Gedanken verschoben werden: Die Reise nach Südamerika, das Schreiben eines Romans, das Finden der großen Liebe, die Eröffnung eines Cafés, der Umzug in ein neues Heim oder einfach das Treffen mit Freunden auf ein Glas Wein.

Es muss eine wunderbare Zeit sein  irgendwann. Wenn wir all das erleben, wozu wir uns heute keine Zeit nehmen, denn wir haben ja Wichtigeres zu tun. Wir müssen arbeiten und fleißig sein, Geld verdienen, damit wir uns irgendwann einmal all das leisten können, wovon wir heute träumen: Die Weltreise, das romantische Café, die Altbauvilla am See. Wir vergeuden die freie Zeit, die wir haben, stattdessen vor dem Bildschirm. Schauen uns an, was andere gerade erleben und nehmen uns vor, es selbst irgendwann einmal zu erfahren. Dann lehnen wir uns zurück, legen die Füße auf den Tisch und sind zufrieden damit, Pläne geschmiedet zu haben, die wir irgendwann verwirklichen wollen. Wir sind ja noch jung, das Leben ist lang.

Doch vielleicht kommt Irgendwann zu spät. Die richtigen Momente verpasst, in denen unsere Wünsche noch Sinn ergaben. Die Villa am See scheint allein plötzlich viel zu groß, die Eröffnung eines Cafés zu risikoreich und für die Liebe sind wir irgendwann zu verbittert. Das Gläschen Wein wartet noch immer darauf, getrunken zu werden, doch nach und nach verschwinden die Menschen aus unserem Leben, mit denen wir es genießen wollten.

Bequemlichkeit und Angst haben unser Leben ins Nichts befördert, ins ziellose Irgendwann. Und irgendwann wird alles leer sein. Eine Leere gefüllt mit verblassten Träumen, deren Zeit abgelaufen ist. Das Leben ist lang, aber endlich deshalb nimm es in die Hand und lebe jetzt und nicht irgendwann.

Donnerstag, 12. Mai 2016

Lasst uns sein, wer wir sind

Als Kind habe ich es geliebt, mich zu verstecken. Aus großen Bettlaken, Wolldecken und Kartons habe ich Höhlen gebaut in der Annahme, dass mich darunter niemand finden könne. Dort fühlte ich mich sicher und geborgen und habe die Ruhe genossen. Auch in der Grundschule haben wir in den großen Pausen nahezu jeden Tag verstecken gespielt, wenn uns nicht gerade allesamt das Lavamonster angriff und wir auf kleine Holzpalisaden flüchten mussten. Meine Freunde und ich verbrachten auf diese Weise sehr viel kostbare Pausenzeit damit, regungslos in der Buchenhecke auszuharren und möglichst keinen Mucks von uns zu geben. Es war der pure Adrenalinkick, wenn der Sucher dann nur wenige Meter an einem vorbeischlich. Schnell schlug das Herz, der Atem stand still und mit einem lauten »gefunden!« musste man schließlich doch zähneknirschend sein Versteck verlassen.

Die Freude am Verstecken bleibt auch im weiteren Leben bestehen. Jeder von uns versteckt sich - mal mehr und mal weniger. Stichwort: Soziale Identität. Je nachdem in welchem sozialen Umfeld wir uns befinden, verändern wir uns. Wir bedienen uns verschiedener Soziolekte, um unsere Sprache dem Gegenüber anzupassen, wir kopieren (oftmals unbewusst) Gestik und Mimik unserer Gesprächspartner/innen und auch unser Kleidungsstil ändert sich der Situation entsprechend. In nahezu jedem ratgebenden Handbuch zu Gesprächsführung liest man sogar die eindeutige Aufforderung, sein Gegenüber nachzuahmen. Natürlich unauffällig, es soll schließlich niemand bemerken.
Wir passen uns an, gliedern uns ein und verstecken einen Teil unseres Selbst. Oftmals zeigen wir nur ein Bruchstück unserer Persönlichkeit aus Eigenschutz. Wer zu viel Preis gibt, macht sich angreifbar und verletzlich. Auch wenn Vielen die Vorstellung der Anpassung zuwider ist, so ist sie im Leben beinahe unumgänglich. Diese Art des Versteckens, die Angleichung, muss nicht bedeuten, dass wir uns selbst verleumden; sie hilft uns aber durch den Alltag und sorgt für ein harmonisches Miteinander.

Vielmehr noch als im realen sozialen Leben verstecken wir unsere Identität im Internet. Wir geben uns einen neuen Namen und kreieren ein alternatives Ich. Viele möchten dadurch lediglich ihre persönlichen Daten schützen, aber häufig wird diese andere Identität eben auch genutzt, um sich hinter ihr zu verstecken. Unser neues Ich traut sich Dinge zu sagen, für die wir vielleicht belächelt, ausgelacht oder angegriffen werden könnten. Wir verstecken uns selbst, um uns vor Lästereien, kritischen Worten oder sogar Drohungen zu schützen. Vielleicht mag diese Einstellung feige sein, doch ist der Wunsch, sich zu maskieren, verständlich. Insbesondere jenen, die sich Worte anderer zu Herzen und Kritik bisweilen persönlich nehmen, bietet eine zweite Identität Schutz und Sicherheit. Sie trauen sich zu sagen, was sie denken oder fühlen und laufen nicht Gefahr, sozial ausgegrenzt zu werden.

Dennoch muss diese Entwicklung unserer Gesellschaft kritisch betrachtet werden. Jeder Mensch sollte angstfrei denken, sagen und tun können, was er möchte, solange er damit keinem anderen Lebewesen Leid zufügt. Dafür muss unsere Gesellschaft allerdings erst einmal lernen, Gedanken, Meinungen und Taten anderer zu akzeptieren. Viele Menschen scheinen nach der Devise »Hauptsache dagegen« zu leben.  Bloß nicht zustimmen, lieber gegenargumentieren; besser das Gedachte, Gesagte oder Geschriebene einer anderen Person aus Prinzip schlecht reden und beleidigen, anstatt eine unbekannte, neue Perspektive wahrzunehmen und darüber nachzudenken. Wer sich dann auch noch beim Rummotzen hinter einer anderen Identität versteckt, darf sich wirklich mit den Titel »Feigling« schmücken. Kritisches Hinterfragen ist gut und unbedingt empfehlenswert, aber Kritik sollte mit Bedacht und objektiv geäußert werden. Pöbelt der »Wutbürger77« unter dem Deckmantel seiner geheimen Identität gegen verfolgte Menschen, Veganer/innen, Fleischesser/innen oder Hundebesitzer/innen, dann scheint dieser Person im Leben eine zufriedenstellende Aufgabe zu fehlen. Jene Menschen, die durch solche Handlungen ihren eigenen Frust und ihre eigene Unzufriedenheit an ihren Mitmenschen auszulassen, sollten dringend einmal ihr Handeln hinterfragen.

Verstecken macht Spaß und es erleichtert das Leben ungemein, wenn man sich dann und wann eine andere Rolle überstülpen kann. Doch sollte dies nicht aus Angst vor Ausgrenzung heraus geschehen. Darüber hinaus sollte sich auch jeder einmal die Frage stellen, inwieweit ein solches Versteckspiel eigentlich noch gesund ist. Führt es nicht im Laufe der Zeit zu einem Identitätsverlust, wodurch wir uns selber fremd werden?
Lasst uns doch einfach öfter mal unsere Maske abnehmen, unser Versteck verlassen und sein, wer wir wirklich sind. Und lasst uns lernen, andere ohne Maskierung zu akzeptieren; versuchen, ihre Meinungen und Perspektiven nachzuvollziehen. So können wir den Umgang miteinander erleichtern und im Kleinen Frieden stiften.