Mittwoch, 30. März 2016

Gibt es wirklich einen Schatz unter dem Regenbogen?



Dort! Am Himmel, zuerst nur ganz blass, erstrahlt ein Regenbogen in leuchtenden Farben. Für die Christen ein Mahnmahl Gottes, in der germanischen Mythologie der Übergang zwischen Menschen- und Götterwelt, für die heutige Gesellschaft ein Symbol der Toleranz und des Friedens; für mich ein Aufruf zur Schatzsuche.
Am Ursprung des bunten Bogens - das weiß der kundige Irlandfreund - befindet sich der Goldschatz des Leprechauns. Herrlich, welch Glück mir winken würde, fände ich diesen und das möglichst schnell!

 Und so begebe ich mich also auf den Weg, den Schatz zu finden. Laufe viele Straßen, Wege und Pfade entlang, durchquere verschlafene Dörfer, lebendige Städte sowie unbekannte Länder und sehe unterwegs die eindrucksvollsten Begebenheiten. Ich staune, wie Blumen im Licht der Sonne erblühen, wie Berge aus dem Nichts heraus in den Himmel wachsen und wie aus einem runden, harten Ei ein flauschiges Küken schlüpft. Die Welt ist voller Wunder, aber ich muss weiter, denn das Koboldgold wartet auf mich.
Auf meiner Schatzsuche begegne ich vielen interessanten und wunderbaren Menschen. Sie begleiten mich auf meiner Reise, doch nur wenige bleiben die ganze Zeit. Manche von ihnen treffe ich auf einem anderen Wegabschnitt noch einmal wieder. Dann reden wir über gestern, rätseln über morgen und feiern unser Wiedersehen heute. Nur eine Handvoll Menschen trage ich während meines Abenteuers im Herzen und ein paar andere im Rucksack, ganz nah bei mir. So viele weitere liebe Menschen hoffe ich, irgendwann einmal wiederzutreffen. Dann und wann denke ich an sie und frage mich, wie es ihnen auf ihrer eigenen Schatzsuche ergangen sein mag.Wer weiß, ob wir uns überhaupt wieder erkennen würden oder ob wir uns wie fremde Wandersleut' einfach bloß zunicken und »Grüß‘ Gott!« murmeln würden.
Die Reise zum Ursprung des Regenbogens ist zuweilen beschwerlich und von Zeit zu Zeit doch federleicht. Gekonnt hüpfe ich über so mancherlei Stein, der mir den Weg zu versperren droht. Das Ziel vor Augen trägt mich mein Wille immer weiter. Helle Nächte und dunkle Tage durchwandere ich; ab und zu führt der Weg mit leichtem Gefälle geradeaus und streckenweise führt er mich steil und kurvig einen Berg hinauf. Nicht mehr weit muss ich laufen, dann finde ich den Schatz, mein Glück. Es wartet schon auf mich, das spüre ich.

 Als ich das Ende des Regenbogens endlich erreiche, bin ich völlig erschöpft. Zeit, Mühe und Nerven kostete mich diese Reise und erstaunt bemerke ich, dass der Schatz gar nicht aus dem Gold des Kobolds besteht, sondern mich bereits die ganze Zeit begleitet hat. In meinem Herzen.

Donnerstag, 24. März 2016

Als Dorfkind in der Großstadt

Wenn man als Dorfkind flügge wird, das Nest der trauten Heimat verlässt und plötzlich in einer Großstadt landet, dann verändert sich alles. Die Umgebung, der Blick auf die Welt und man selbst. Auch ich sprang vor einigen Jahren ins kalte Wasser und tauchte ein in ein Meer von Möglichkeiten. Gewöhnt an lange Fußmärsche oder Fahrradtouren, weil der Bus höchstens einmal in der Stunde und nicht später als 19:27 Uhr das Dorf verlässt, findet man sich plötzlich in der wunderbaren Situation wieder, nicht mehr als 10 Minuten auf ein öffentliches Verkehrsmittel zu warten. Muss man sich doch einmal länger gedulden, so kann man um sich herum, gleich einem Wimmelbild, allerhand entdecken und beobachten:
Stadtmenschen sind eine Klasse für sich. Sie tragen stets einen Coffee-to-Becher in der einen, ihr Smartphone in der anderen Hand. Sie wickeln sich in deckengroße Schals und tragen hippe Hüte auf ihren Köpfen. Die Haare bunt gefärbt, rasiert oder kunstvoll zu einer gerade-aufgestanden-Frisur verstrubbelt. Ihr Blick ist cool, so als merkten sie nicht, dass ich sie anstarre wie ein Kunstobjekt. Mit dicken Kopfhörern auf den Ohren und mit überdimensionalen Mänteln bekleidet rauschen sie an mir vorbei, während ich alle paar Meter stehen bleibe, um die Faszination Stadt für mich zu begreifen.

 Häuser ragen weit in den Himmel hinein. An ihren Fassaden prangen bunte Graffitis, tragen einen Teil zum Stadtdiskurs bei. Botschaft an die Gesellschaft, politische Rebellion oder einfach nur der Wunsch, etwas Verbotenes zu tun? Ich frage mich, was die Intention des Sprayers war, der einen Kackhaufen, aus dem eine rote Blume zu wachsen scheint, an die Seitenmauer eines gelb gestrichenen Gebäudes gesprüht hat.
An jeder Ecke gibt es kleine Kneipen oder Cafés und am Abend habe ich die Wahl zwischen Irish Folk, elektronischer Tanzmusik, einer Aufführung von Goethes Faust und einem französischen Kunstfilm aus den 1960er Jahren. Ich entscheide mich schließlich für einen Cocktailabend mit Freunden in einer spanischen Bar, die bereits zahlreiche Preise für ihre außergwöhnlichen Getränkemischungen gewonnen hat. Während ich mich auf dem Rückweg frage, ob es für das Wort „Cocktail“ eigentlich ein deutsches Wort á la „Getränkemischung“ gibt, fällt mir auf, wie viele Menschen nachts unterwegs sind und freue mich über die Lebendigkeit des Stadtlebens. Selten sitze ich allein im Bus, selbst nachts um drei Uhr nicht. Mit einer Mischung aus Ängstlichkeit und Neugier werfe ich den Mitfahrenden Blicke zu, überlege im Geiste, welche Lebensgeschichten diese Personen in sich tragen. Einige wirken, als würde sie nur noch die Chemie der Drogen am Leben halten, die sie zuvor zerstört hat.

 Doch der Zauber der Großstadt verblasst mit der Zeit. Der Reiz der unendlichen Möglichkeiten ist verloren, ich bleibe zuhause und fühle mich nicht nur in meiner kleinen Wohnung wie in einem Meerschweinchenkäfig. Die Stadt ist eng und anonym. Selbst nach Jahren der Nachbarschaft, kenne ich die Namen der anderen Mieter in meinem Haus nur von den Briefkastenschildern und würde die dazugehörigen Personen nicht einmal erkennen, wenn ich ihnen unterwegs begegnete. Die Stadt quillt über vor Menschen und doch fühle ich mich wie ihr einziger Bewohner. Vorbei ist die  Zeit, in der mich die Leute durch ihre Extravaganz beeindruckt haben. In ihrem zwanghaften Streben nach Individualität laufen sie uniformiert durch ihr Viertel. Ihr Anblick langweilt mich. Lediglich die knalligen Farben ihrer Turnschuhe, die sie zu viel zu kurzen und engen High-Waist-Bluejeans tragen, unterscheiden sich. Turnbeutel, dicke Fensterglasbrillen und Loophaargummis, bei denen ich immer an die Telefonkabel früher Festnetztelefone denken muss -  überall sehe ich die gleichen, angepassten Menschen. Sie gucken nicht cool, sondern genervt, wenn der Bus mit dem sie ins Fitnessstudio fahren, fünf Minuten zu spät kommt. Nebeneinander stehen sie da, starren auf ihre Handys und haben verlernt, ihre Umgebung wahrzunehmen. Ich vermisse die Zeit, wo ich beim Warten auf den Bus in meinem Heimatort meinem Schwarm heimliche Blicke zuwarf, scheu lächelte und schnell zur anderen Seite schaute, sobald er es bemerkte. Hier in der Stadt werden keine Blicke ausgetauscht und gelächelt wird nur noch für die Handykamera und das neue Selfie für Instagram. Mir fehlen die Menschen mit ihren dicken Gummistiefeln und grünen Allwetterjacken, die einem zunicken, wenn man sich zu ihnen in das Buswartehäuschen stellt. Meine Dorfbewohner mit ihrer liebenswerten mürrischen Art lächeln zwar ebenso selten, aber wenn, dann kommt es von Herzen.

 Nachts laufe ich durch die Straßen und blicke in den hellschwarzen Himmel. Mir fehlen die vielen Sterne und der verlorene Blick in die Unendlichkeit des Universums. Die Stadt pulsiert wie unter einer Glocke. Nicht weiter als bis zum nächsten Häuserblock reicht der Blick. Ich vermisse es, über die Wiesen und Felder zu schauen, vermisse den Geruch nach frischem Heu und geschnittenem Rasen. Auch die steife Briese fehlt mir hier, die mir im Garten um die Nase wehte und meine Haare durcheinanderwirbelte.
Stadtleben, du hast mich aufgefangen, als ich aus dem Nest gefallen bin, aber ich weiß schon jetzt, dass wir unsere Beziehung nicht ewig werden fortführen können. Noch kommen wir miteinander klar, trotzdem werde ich dich irgendwann verlassen. Ich weiß, es ist eine der meistgehassten Phrasen, aber ich meine sie ernst: Lass' uns danach doch einfach Freunde bleiben.

Zum richtigen Umgang mit der Realität



Ich öffnete die Augen und sah sie direkt vor mir: Die Realität. Ganz plötzlich stand sie da in ihrer beängstigenden Gestalt. Schaute mich von oben herab herausfordernd an, als wollte sie damit angeben, mich endlich eingeholt zu haben. Wie hatte sie mich eigentlich gefunden? Lange Zeit hatte ich mich vor ihr in Träume geflüchtet. Die Realität selbst hatte sich in eine Traumgestalt verwandelt. Als teuflisches Monster war sie in meinen Alpträumen erschienen. Stets war ich davongelaufen und hatte nie den Mut gefasst, mich ihr zu stellen. Doch nun war sie da, wahrhaftig und drohend zugleich. Ängstlich schaute ich mich nach einem neuerlichen Fluchtweg um, aber ein Entkommen schien unmöglich. Die Realität baute sich immer größer vor mir auf, hinter ihr konnte ich bloß verschwommen verschiedene Wege erblicken. Ich kniff die Augen zusammen, jedoch konnte ich auch dann nicht deutlich erkennen, wohin ihre Pfade führen würden. Einige verliefen geradeaus, andere wirkten verschlungen und weckten dadurch meine Neugier. Was mochte sich wohl hinter all den Kurven und Abzweigungen verbergen? Hinter mir hatte sich wie aus dem Nichts eine Mauer aufgebaut und schnitt mich von meiner Vergangenheit ab. Es gab kein zurück und weiter konnte ich nur, indem ich mich dem Kampf stellte, den ich so fürchtete und vor dem es mir seit Langem graute.

 Um mich herum erkannte ich die Schemen meiner Freunde und meiner Familie. Auch sie starrten mich mit diesem provokativen Blick an. »Los, kämpfe endlich«, schrien sie stumm. Ich wollte ihnen antworten, dass mir keiner je erklärt hatte, wie man die Realität bekämpft, aber als ich den Mund öffnete, kamen keine Worte heraus. Wie hatte es soweit kommen können? Innerhalb eines Augenblickes war die Seifenblase geplatzt, die mich bisher so gut vor der Realität behütet hatte. Stimmengewirr umgab mich. Meine Zuschauer am Rand riefen mir etwas zu, doch in dem Durcheinander ihrer vielen Stimmen, konnte ich nur Wortfetzen verstehen. »Arbeit«, »Steuer«, »Versicherung«, »Entscheidung«, »Gehalt«, »Vertrag«, »Beziehung«, »Liebe«, »Glück«, »Zeit« –  in mir stieg Ärger auf. Warum sagten sie mir nicht einfach, wie ich die Realität überwältigen konnte und welchen Weg ich danach einschlagen sollte. Ihre Andeutungen nervten mich, halfen sie mir ja doch nicht weiter. Ich versuchte, nach einer rettenden Hand zu greifen, aber sie lachten mich nur aus. Einer nach dem anderen kehrte mir den Rücken zu, überließ mich der unheimlichen Schreckgestalt vor mir. Hatten sie mich aufgegeben? Die Erfahrung war neu für mich, denn bisher hatte immer irgendjemand meine bittende Hand gefasst, mich sanft ein Stückchen auf dem Weg begleitet, wenn er zu steinig war, um ihn allein zu gehen. »Wir sind für dich da«, »du packst das schon, ich helfe dir«, waren das alles nur Worthülsen gewesen? Genauso leer und bedeutungslos wie die Texte gegenwärtiger Popmusiker, welche von einer Liebe singen, die es in diesem Leben gar nicht zu geben scheint?

 Eine Woge der Enttäuschung überflutete mich angesichts dieser Erkenntnis und drohte, mich zu ersticken. Die Welt um mich herum war nicht mehr farbenfroh und lustig. Grau und ernst schien sie geworden zu sein und noch immer stand ich allein vor meinem wahrgewordenen Albtraum. Schwarze Wolken zogen am Himmel auf und verdunkelten die wärmende Sonne. Mit zitternden Knien wagte ich einen Schritt nach vorne. Ich konnte der Realität nun beinahe in die Augen sehen. Mein Kopf fühlte sich leer an angesichts dieser riesigen Gestalt vor mir, die Gedanken wirbelten durcheinander wie die Flocken in einem Schneegestöber. Nur langsam kristallisierte sich ein Gedanke in dieser dunklen Wolke: Was bildete sich die Realität eigentlich ein, meine Träume zu ruinieren und mir Angst einzujagen! Dieses hässliche Geschöpf, die Ausgeburt meiner Angst war meine Bedenken doch gar nicht Wert. »Jetzt oder nie«, dachte ich und spuckte der Realität auf die Füße.