Samstag, 13. August 2016

Vom Suchen und Finden der Wahrheit


Am Stamme einer toten Birke sitzend, steht sie auf einmal vor mir. Nackt.

«Wer bist du?», frage ich verwirrt.
«Die Wahrheit», antwortet sie. Einfach so. Als hätte ich gerade meine Nachbarin nach der Uhrzeit gefragt.
«Die Wahrheit? Aber... aber ich habe doch gar nicht nach dir gesucht!», stottere ich.
«Das musst du auch nicht, denn ich bin immer da», erklärt sie mit ruhiger, bestimmter Stimme und sieht mich mitfühlend an.

Ich mustere sie nachdenklich, versuche zu erkennen, wie sie aussieht, doch es gelingt mir nicht. In einem Augenblick strahlt sie eine solche Schönheit aus, die mein Bewusstsein überfordert, während ich im nächsten Moment in eine grässliche Fratze schaue und meinen Blick erschreckt abwende.

«Wieso habe ich dich noch nie zuvor gesehen?», frage ich sie blinzelnd.
«Weil du deine Augen vor mir verschlossen hast.»
«Und was passiert jetzt?»
«Das entscheidest du.»

Ich kneife die Augen zusammen und erwarte beim Öffnen, dass sie verschwunden ist. Aber nein, die Wahrheit steht noch vor mir. Zwar verschwimmt ihr Äußeres immer wieder vor meinen Augen, jedoch sehe ich ihr Inneres ganz klar. So klar wie den Meeresboden am Strand vor der griechischen Küste, schießt es mir durch den Kopf. Vorsichtig stehe ich auf und gehe ein paar Schritte den kleinen Pfad entlang als ich bemerke, dass die Wahrheit stets vor mir schwebt. 

«Bleibst du jetzt für immer bei mir?»
«Solange du mich erträgst», sagt sie da und lächelt traurig.

Donnerstag, 4. August 2016

Sieben Tage, zwölf Blasen und ein Zelt - Abenteuer Speyside Way


Schon seit geraumer Zeit wollte ich gerne einmal den nördlichen Teil Groß Britanniens erkunden. Als mich vor Kurzem dann ein guter Freund fragte, ob wir nicht zusammen eine Wanderreise machen wollten, musste ich daher nicht lange überlegen.

Kurzentschlossen ging es also raus aus dem verregneten, grauen Bremen und ab ins ebenso verregnete, dafür aber sehr grüne, Schottland. Nach knapp zwei Stunden Flug erreichten mein Reisecompagnon Jan und ich Edinburgh und sofort verliebte ich mich in dieses Fleckchen Erde. Wir verbrachten leider nur einen Abend in dieser zauberhaften Stadt, zogen mit einem echten Schotten durch die Pubs, tranken einige pints of beer und ein Glas Whisky, bevor wir müde in unsere Hostelbetten fielen.

Nach einem kurzen Abstecher ins Geburtscafé Harry Potters (The Elephant House) begann am nächsten Tag unsere Busreise über Aberdeen bis zu einem Vorort von Buckie, auf der uns sogar Scones mit Butter und Marmelade, Getränke und Süßigkeiten serviert wurden. Durch die Fenster sahen wir bereits die ersten Ausläufer der Highlands und schmiedeten Pläne für die vor uns liegende Zeit.

Am Startpunkt unserer Wanderroute angekommen, machten wir dort weiter, wo der letzte Abend aufgehört hatte und versackten in einem Pub inmitten von Bikern, Dorfbewohnern und Geburtstagsfeiern, ehe wir vor der ersten Nacht im Zelt noch ein erfrischendes Bad in der gar nicht mal so warmen Nordsee nahmen.
Für Nachahmer: Wer nicht bis ans Reiseende feuchte Klamotten im Rucksack tragen will, trocknet sich nach dem Baden erst einmal ab.

Endlich ging es los! Unsere Strecke: Der Speyside Way. Unser Ziel: Aviemore. Unser eigentliches Ziel: Der Besuch dreier Whiskydestillerien.

Wir liefen bis zur Mündung der Spey in die Nordsee, freuten uns tierisch über am Strand liegende Robben und wanderten entlang des Ufers über grüne Wiesenwege. Schnell noch einen Abstecher (zu dem Zeitpunkt waren wir noch motiviert, extra Wege in Kauf zu nehmen) zu einer stillgelegten Bahntrasse, um dann durch eine weitere Etappe durch den Wald in den größten Ort auf dem Speyside way zu gelangen: Fochabers, 2 000 Einwohner, hier steppt der Bär.
Bevor wir auf dem Zeltplatz die Bekanntschaft der Midgets machten, gönnten wir uns nach der ca. 24 km langen Strecke erst einmal eine leckere, fettige Pizza, um ein Viertel der verbrauchten Kalorien aufzufüllen.

Midgets: Kleine fruchtfliegenartige und mückenähnliche Insekten, welche in Schwärmen um deinen Körper schwirren und dich in jeglichen Millimeter Haut zwicken, den sie nur finden können. Ich habe den Interneteinträgen vor der Reise natürlich keinen Glauben geschenkt und mit einem „ach, das sind doch nur ein paar kleine Mücken“ die Tropenschutzkleidung zuhause gelassen.

Wie auf jedem Zeltplatz erwartete uns auch dort wieder ein netter, älterer Schotte, der beim Anblick unserer erschöpften Gesichter erst einmal mit ernstem Gesicht darauf hinwies, dass der Platz voll sei, und dann lauthals loslachte, als mir vor Schreck offenbar die Gesichtszüge entglitten.

Am Abend fehlte uns die Motivation sowohl dazu, noch einmal zurück in den Ort zurückzulaufen, um ein Tennent‘s zu trinken als auch dazu, Aquarellbilder zu malen. (Neue Erkenntnis: Stehen Männer beim Packen vor der Entscheidung, ob sie Gaffa-Klebeband oder Aquarellfarben mitnehmen sollten, entscheiden sie sich nicht für das, was ihr jetzt denkt.) So schliefen wir also früher als die herumtobenden Kinder, denen wir zuvor immerhin das WLAN-Passwort hatten abluchsen können.


Mit zwölf Blasen unter den Füßen liefen wir am nächsten Tag quasi wie auf Wolken (oder doch eher wie auf Nadelkissen) weiter bis Boat o Brig, wo wir feststellten, dass es wirklich keinen Ort  sondern nur eine Brücke gab (man sollte auch Reiseführern gegenüber skeptisch sein), bevor wir den ersten größeren Anstieg wagten. Zum Glück war uns der Wettergott gnädig und erfrischte uns immer wieder mit Regenschauern. Diese sorgten auch dafür, dass der Schweiß der Anstrengung des Bergauflaufens gar nicht mehr auffiel. Wir kamen uns vor wie in den Tropen: Grün, feucht, aber nicht ganz so warm.
Leider bekam ich die Rechnung für monatelange „nächste-Woche-fange-ich-aber-wirklich-mit-Sport-an“-Ausreden bereits an diesem zweiten Wandertag. Da offenbar ein unsichtbares Schwert in meinem Knie steckte, konnte ich fortan nur noch hinter Jan her humpeln. Alle Fotos, die ab dem Zeitpunkt des Abstiegs entstanden, zeigten also Jan von hinten und mich mit gequältem Gesichtsausdruck von vorn.
Dennoch nahm ich die wunderschönen alten Eichen wahr, die den Schlussteil des Weges säumten. Mit Sätzen wie „Ich glaube, in einer Meile sind wir da“, motivierte mich Jan, die restlichen 8 Meilen weiter zu kriechen und verlor bis zum Ende des Urlaubs nicht einmal die Geduld, was mich nachhaltig beeindruckt hat.

In unserem Etappenziel Craigellachie schlugen wir unser Zelt auf einer wilden Wiese auf (ok, ich gebe zu: Jan schlug es wieder einmal auf, während ich ihn dabei fotografierte) und genossen im Highlander Inn ein richtiges Abendessen, an das wir uns am nächsten Abend bei einer kalten Dose Nudeln in Tomatensoße sehnsüchtig zurückerinnern würden.
Aber erst einmal ging es am Tag darauf mit der Geschwindigkeit einer lahmenden Schnecke weiter nach Aberlouer, immer dem Keksgeruch der Walkers Shortbread-Fabrik hinterher bis zu unserer ersten Destilleriebesichtigung. Dort endet die Erinnerung.

Mit der Feststellung, dass von Aberlouer keine Busse direkt Richtung Süden fahren, nahmen wir also einen minimalen Umweg über Elgin und Inverness in Kauf und fuhren direkt an unseren Zielort Aviemore. Nicht, ohne in Elgin unsere zweite Destillerie (Glen Moray) zu besuchen und unsere Lebensgeister bei der Probe dreier Scotch Whiskys zu wecken.

Ohne die kleine Schummelei mit dem Bus hätten wir jedoch am folgenden Tag das Erlebnis verpasst, mit der Strathspey Steam Railway nach Boat of Garten zu fahren. Ein weiteres kleines Highlight für jeden Harry Potter Fan, der schon immer einmal im Hogwartsexpress reisen wollte. Durch die Zugfahrt konnten wir die letzten 10 km des Speyside ways also doch noch und ganz ohne schweres Gepäck laufen. Der Streckenabschnitt wurde im Reiseführer als einer der schönsten gepriesen und auch ohne die komplette Strecke gelaufen zu sein, waren wir uns einig, dass es stimmte. Der Weg führte durch märchenhafte Birkenwälder und eine sanfthügelige Heidelandschaft, die mich an die heimatliche Duhner Heide erinnerte, wäre da nicht das wunderbare Bergpanorama der schneebedeckten Highlands im Hintergrund gewesen. Traumhaft! Durch mystische Tunnel und über kleine Brücken führte uns der Weg schließlich zurück in die Stadt, wo wir uns erst einmal satt aßen und frisch gestärkt den Abend im Pub verbrachten. Unsere Tanzeinlage zur schottischen Dreimannband krönte den Abend für alle Beteiligten.

Und so ganz plötzlich ist der Urlaub auch schon wieder vorbei, die Erlebnisse nur noch Erinnerungen, die einem im Grau des Alltags den Tag versüßen. Schottland, du raue, grüne Schönheit, hast meine Erwartungen voll und ganz erfüllt und ich werde dich sicher noch einmal besuchen, um auch den Rest deiner Geheimnisse zu erkunden. Zwar haben wir unsere Ziele nicht ganz erfüllen können, doch habe ich gemerkt, dass es gar nicht darauf ankommt. Vielmehr geht es darum, das Leben so zu nehmen, wie es kommt und jeden Augenblick zu genießen. Und das haben wir geschafft.