Donnerstag, 24. März 2016

Zum richtigen Umgang mit der Realität



Ich öffnete die Augen und sah sie direkt vor mir: Die Realität. Ganz plötzlich stand sie da in ihrer beängstigenden Gestalt. Schaute mich von oben herab herausfordernd an, als wollte sie damit angeben, mich endlich eingeholt zu haben. Wie hatte sie mich eigentlich gefunden? Lange Zeit hatte ich mich vor ihr in Träume geflüchtet. Die Realität selbst hatte sich in eine Traumgestalt verwandelt. Als teuflisches Monster war sie in meinen Alpträumen erschienen. Stets war ich davongelaufen und hatte nie den Mut gefasst, mich ihr zu stellen. Doch nun war sie da, wahrhaftig und drohend zugleich. Ängstlich schaute ich mich nach einem neuerlichen Fluchtweg um, aber ein Entkommen schien unmöglich. Die Realität baute sich immer größer vor mir auf, hinter ihr konnte ich bloß verschwommen verschiedene Wege erblicken. Ich kniff die Augen zusammen, jedoch konnte ich auch dann nicht deutlich erkennen, wohin ihre Pfade führen würden. Einige verliefen geradeaus, andere wirkten verschlungen und weckten dadurch meine Neugier. Was mochte sich wohl hinter all den Kurven und Abzweigungen verbergen? Hinter mir hatte sich wie aus dem Nichts eine Mauer aufgebaut und schnitt mich von meiner Vergangenheit ab. Es gab kein zurück und weiter konnte ich nur, indem ich mich dem Kampf stellte, den ich so fürchtete und vor dem es mir seit Langem graute.

 Um mich herum erkannte ich die Schemen meiner Freunde und meiner Familie. Auch sie starrten mich mit diesem provokativen Blick an. »Los, kämpfe endlich«, schrien sie stumm. Ich wollte ihnen antworten, dass mir keiner je erklärt hatte, wie man die Realität bekämpft, aber als ich den Mund öffnete, kamen keine Worte heraus. Wie hatte es soweit kommen können? Innerhalb eines Augenblickes war die Seifenblase geplatzt, die mich bisher so gut vor der Realität behütet hatte. Stimmengewirr umgab mich. Meine Zuschauer am Rand riefen mir etwas zu, doch in dem Durcheinander ihrer vielen Stimmen, konnte ich nur Wortfetzen verstehen. »Arbeit«, »Steuer«, »Versicherung«, »Entscheidung«, »Gehalt«, »Vertrag«, »Beziehung«, »Liebe«, »Glück«, »Zeit« –  in mir stieg Ärger auf. Warum sagten sie mir nicht einfach, wie ich die Realität überwältigen konnte und welchen Weg ich danach einschlagen sollte. Ihre Andeutungen nervten mich, halfen sie mir ja doch nicht weiter. Ich versuchte, nach einer rettenden Hand zu greifen, aber sie lachten mich nur aus. Einer nach dem anderen kehrte mir den Rücken zu, überließ mich der unheimlichen Schreckgestalt vor mir. Hatten sie mich aufgegeben? Die Erfahrung war neu für mich, denn bisher hatte immer irgendjemand meine bittende Hand gefasst, mich sanft ein Stückchen auf dem Weg begleitet, wenn er zu steinig war, um ihn allein zu gehen. »Wir sind für dich da«, »du packst das schon, ich helfe dir«, waren das alles nur Worthülsen gewesen? Genauso leer und bedeutungslos wie die Texte gegenwärtiger Popmusiker, welche von einer Liebe singen, die es in diesem Leben gar nicht zu geben scheint?

 Eine Woge der Enttäuschung überflutete mich angesichts dieser Erkenntnis und drohte, mich zu ersticken. Die Welt um mich herum war nicht mehr farbenfroh und lustig. Grau und ernst schien sie geworden zu sein und noch immer stand ich allein vor meinem wahrgewordenen Albtraum. Schwarze Wolken zogen am Himmel auf und verdunkelten die wärmende Sonne. Mit zitternden Knien wagte ich einen Schritt nach vorne. Ich konnte der Realität nun beinahe in die Augen sehen. Mein Kopf fühlte sich leer an angesichts dieser riesigen Gestalt vor mir, die Gedanken wirbelten durcheinander wie die Flocken in einem Schneegestöber. Nur langsam kristallisierte sich ein Gedanke in dieser dunklen Wolke: Was bildete sich die Realität eigentlich ein, meine Träume zu ruinieren und mir Angst einzujagen! Dieses hässliche Geschöpf, die Ausgeburt meiner Angst war meine Bedenken doch gar nicht Wert. »Jetzt oder nie«, dachte ich und spuckte der Realität auf die Füße.

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